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Reaktion auf Medienberichte über den tragischen Tod eines 17-Jährigen

In der aktuellen Ausgabe der Sendung „Spiegel TV“, ausgestrahlt am 01. Juli 2019 und des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ wird über den tragischen Tod eines Jugendlichen aus dem Landkreis Oder-Spree berichtet, der gemeinsam mit seiner Familie über einen langen Zeitraum durch das Jugendamt der Kreisverwaltung unterstützt und begleitet wurde. Die Betreuung umfasste auch eine drei Jahre währende Einbindung in ein Auslandsschulprojekt in Kirgisistan, welches die persönliche Entwicklung von Hannes fördern sollte. Der Jugendliche kehrte im Sommer 2017 nach Deutschland zurück und verstarb plötzlich im Oktober 2018.

In dem Fernsehbeitrag von „Spiegel TV“ wird der Eindruck erweckt, das Jugendamt des Landkreises habe mit seiner Entscheidung zur Beendigung des Auslandsaufenthalts einen relevanten Ursachenbeitrag zum späteren Tod des Schülers geleistet, da dieser erhebliche Probleme bei der Wiedereingliederung in die deutsche Gesellschaft, insbesondere die Schule gezeigt habe. An gleicher Stelle findet sich zu den unmittelbaren Todesursachen aber der zitierte Verweis (Spiegel TV): „Doch im Krankenhaus stellen die Ärzte fest, dass Hannes eine bis dahin unentdeckte Muskelkrankheit hat. Zusammen mit den Drogen Kokain und Ecstasy eine für ihn tödliche Mischung. Er stirbt an multiplem Organversagen..."

Da das Jugendamt keine eigenen Erkenntnisse zu den Todesursachen von Hannes hat, kann es sich mit allem Vorbehalt nur auf die veröffentlichten Angaben, die offensichtlich mit der Mutter abgestimmt sind, stützen. In der Spiegel-Printausgabe Nr. 27 vom 29. Juni 2019 heißt es auf Seite 34 dazu: „Etwas mehr als ein Jahr nach seiner Rückkehr, im Oktober 2018, starb Hannes in einem Berliner Krankenhaus mit 17 Jahren. Multiorganversagen. In seinem Urin fanden Ärzte Spuren von Kokain und Ecstasy, Amphetamin und Metamphetamin“. Auf Seite 37 wird weiter ausgeführt: „Ines Semisch-Graßmann sagt, sie habe gewusst, dass Hannes manchmal kiffte. Aber nicht, dass er harte Drogen nahm“.

Die reißerische journalistische Darstellung durch „Spiegel TV“ und der dort konstruierte Schuldvorwurf gegenüber dem Jugendamt haben zu einem teilweise hasserfüllten Sturm der Entrüstung über die Mitarbeiter des Jugendamtes, die Institution Jugendamt, Behörden insgesamt und den Landrat geführt. Es handelt sich um einen treffend so bezeichneten Shitstorm, den man unter zivilisierten Bürgern kaum für möglich hält und der selbst vor Morddrohungen nicht zurückschreckt. Ich kann deshalb nur dringend an die Kommentatoren appellieren, sich bewusst zu machen, was sie da ohne jegliche Sachkenntnis eigentlich schreiben – bekanntlich ist das Wort der erste Schritt zur Tat.

Ungeachtet der verfälschten Darstellung, gegen die wir uns zur Wehr setzen werden, dürfen wir uns in unserem Handeln nicht beirren lassen. Die Verwaltung ist ausschließlich an Recht und Gesetz orientiert, das haben wir auch in diesem Fall beherzigt. Deshalb sind die getroffenen Entscheidungen des Jugendamtes auch in drei gerichtlichen Verfahren durch das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) und das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg als rechtens bestätigt worden. Auch ein seitens der Familie angestrengtes staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wurde mangels Anfangsverdachts eingestellt.

Insofern ist der bei „Spiegel TV“ aufgerufene Sachverhalt rechtlich abschließend beurteilt worden, denn in einem Rechtsstaat urteilen letztverbindlich nicht die Verwaltungsbehörde und noch weniger Journalisten bzw. die Netzgemeinde, sondern ausschließlich die Gerichte. Die Betroffenen haben die Möglichkeit eines umfassenden Rechtsschutzes im vorliegenden Fall auch mit versierter anwaltlicher Begleitung intensiv genutzt.

Auch das behauptete Fehlen eines Wiedereingliederungskonzeptes bzw. mangelnder Unterstützungsangebote seitens des Jugendamtes entspricht nicht dem, was die Akten dazu besagen. Mit Schreiben vom 06. Mai 2019 wurde der Fachaufsicht im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg ein ganzer Katalog an unterbreiteten Hilfeangeboten und Unterstützungsmaßnahmen dezidiert dargelegt. Das Jugendamt muss aber einräumen, dass diese vielfach deshalb nicht wirksam werden konnten, da die entsprechende Kooperationsbereitschaft sowohl bei dem Jugendlichen selbst, als auch bei seinen Eltern nicht vorhanden war. Bei einer derartigen Verweigerungshaltung versagt das beste Hilfeleistungssystem bzw. scheitert auch der engagierteste Sozialpädagoge im Jugendamt.

Selbst wenn die empörte Leserschaft bzw. die Fernsehzuschauer der Jugendhilfe eine umfassende Verantwortung zuschreiben, so widerspricht dies doch der insoweit eindeutigen Rechtslage, denn die Handlungsmöglichkeiten eines Jugendamtes finden ihre Grenze an dem Erziehungsgrundrecht der Eltern. Deshalb ist der Verweis des Landrates auf Art. 6 des Grundgesetzes weder eine Flucht aus der behördlichen Verantwortung noch ein Schuldvorwurf an die Eltern, sondern schlicht der Verweis auf ein grundrechtliches Abwehrrecht der Eltern gegenüber dem staatlichen Handeln des Jugendamtes.

Es bleibt dabei, die elterliche Sorge lag bis zum Tod des Jungen bei den Eltern von Hannes. Das Jugendamt des Landkreises konnte sich beratend und mit therapeutischen und schulischen Angeboten einbringen. Deshalb ist es eine grobe Verkennung der klar verteilten Handlungsmöglichkeiten aber auch Verantwortlichkeiten, wenn man behauptet, der über ein Jahr später eingetretene Tod, verursacht durch Drogenmissbrauch, von dem nach eigenem Bekunden nicht einmal die Mutter Kenntnis hatte, sei auf eine Entscheidung des Jugendamtes über die Beendigung eines über drei Jahre laufenden Erziehungsprojektes in Kirgisistan zurückzuführen.

Entgegen dem Eindruck, der durch den Beitrag von „Spiegel TV“ erzeugt werden soll, mangelt es weder meinen Mitarbeitern noch mir selbst an menschlichem Mitgefühl. Die meisten der beteiligten Mitarbeiter sind Mütter oder Väter von Kindern und sahen in der Begleitung von Hannes über viele Jahre schon etwas mehr, als das Abarbeiten eines Aktenfalles. Wenn man derart intensiv mit der persönlichen Entwicklung eines Jugendlichen und der Überwindung seiner massiven Schwierigkeiten befasst ist, dann baut man ganz unweigerlich auch eine persönliche Beziehung zu ihm auf. Man versucht, durch Perspektivenwechsel immer wieder neue Chancen der Unterstützung zu erschließen. Das hat auch die Familie hinsichtlich der Mitarbeiterin, die die Unterbringung in Kirgisistan aus ihrer Sicht sehr aufgeschlossen begleitet hat, eingeräumt. Das gilt aber auch für die anderen einbezogenen Mitarbeiter, ungeachtet dessen, dass diese nach drei Jahren Aufenthalt in Kirgisistan zu einer anderen fachlichen Beurteilung gekommen sind.

Insofern hat der Tod von Hannes bei all diesen Kollegen ein großes Entsetzen ausgelöst. Und entgegen der offensichtlich sehr verbreiteten Annahme geht eine verantwortliche Leitung angesichts einer solchen Todesnachricht – und zwar ungeachtet der staatsanwaltlichen Ermittlungen bzw. der Presseanfragen – dann in sich und prüft, ob hier vermeidbare Fehler gemacht wurden. Auch diese nochmalige interne Auseinandersetzung mit den entscheidenden Punkten der Entwicklung des Geschehens, ist hier erfolgt.

Man kann deshalb nicht wirklich ernsthaft annehmen, die Kolleginnen und Kollegen, die mit den Problemen von Hannes konfrontiert waren, gingen leichtfertig und gleichgültig über den Tod eines jungen Menschen hinweg. Und diese Anteilnahme hat das Jugendamt auch zum Ausdruck bringen wollen, als man der Familie vor dem Hintergrund des jahrelangen intensiven Kontakts und des geteilten Wissens um die Umstände eine Trauerbegleitung durch einen Träger angeboten hat.

Dass das aufgrund der rechtlichen Auseinandersetzung über den richtigen Weg einer Unterstützung durch die Familie nicht angenommen wurde, dafür habe ich aufgrund der Trauer und der abweichenden Beurteilung der Frage, was für Hannes das Beste gewesen wäre, Verständnis. Gleichwohl setzt eine gelingende Kommunikation gerade in einer solch schwierigen Situation auf beiden Seiten voraus, dass man den Blick für das menschliche Maß nicht verliert.

Und genau deshalb nehme ich es als Landrat nicht hin, dass meinen Mitarbeitern ungerechtfertigt ein Versagen bzw. eine Straftat angedichtet werden soll, wie dies ja weiterhin versucht wird. Ich pflege einen sehr selbstkritischen Umgang mit Entscheidungen, die in diesem Hause getroffen werden – das wissen alle Mitarbeiter aber auch Bürger, die in diesem Punkte Erfahrungen mit meinen Aufklärungsbemühungen gemacht haben – so verhält es sich auch hier.

Shitstorm hin oder her, im vorliegenden Fall gebietet mir schon der Fürsorgegrundsatz, mich als Landrat vor meine Mitarbeiter zu stellen. Ich nehme dabei auch in Kauf, dass ich mit Blick auf die behördliche Schweigepflicht mein internes Wissen auch den abstrusesten Behauptungen nicht entgegensetzen darf und deshalb in der medialen Darstellung nicht unbedingt in jedem Fall eine glückliche Figur mache – insbesondere dann, wenn einem ein Fernsehteam regelrecht auflauert, um das vorgefertigte Bild vom verantwortungslosen und hartherzigen Landrat trickreich zu bestätigen.

All das wird mich aber von dem eingeschlagenen Weg einer vorbehaltlosen Aufklärung dieses tragischen Einzelfalles nicht abhalten. Deshalb habe ich, da mir neben der rechtlich korrekten Arbeitsweise auch daran gelegen ist, dass die ethischen Maßstäbe in einem solchen Fall Beachtung gefunden haben, das Begehren der Mutter von Hannes aufgegriffen und den Sachverhalt, der in der Öffentlichkeit inzwischen hohe Wellen geschlagen hat, zu einer unvoreingenommenen Betrachtung als Petition der Mutter an den Kreistag überwiesen.

Damit ist von Seiten der Verwaltung alles getan worden, um auch den Weg für diese erweiterte Beurteilung zu ermöglichen, die an sich so nicht vorgesehen ist. Es ist nun aber an der Familie, dem Jugendamt die notwendigen Schweigepflichtsentbindungen aller, in ihren Persönlichkeitsrechten durch die Offenlegung der Akten berührten Personen zuzuleiten, damit wir die streng geschützten Inhalte auch den grundsätzlich nicht berechtigten Abgeordneten des Kreistages zugänglich machen können.

Dies steht trotz meiner Bitte mit Schreiben vom 28. Mai 2019 an Frau Semisch-Graßmann noch aus. Ich hoffe aber, dass ihr Aufklärungsbedürfnis ehrlich gemeint war und sie uns diese Erklärungen bis zum 05. August, dem Tag, an dem der Geschäftsordnungs- und Petitionsausschuss in einer nichtöffentlichen Sitzung erstmals zusammentritt, zukommen lässt.

Rolf Lindemann
Landrat

Datum: 5. Juli 2019